Jochen Raffert
Geboren am 16. März 1925 im kleinen, windschiefen Fachwerkhaus Hückedahl 1, wuchs er in einem Spannungsfeld von Enge und Weite auf, das sein Leben bestimmen sollte. 100 Meter östlich seines Geburtshauses stand der Dom – heute ein Weltkulturerbe. 50 Meter westlich stieß das Grundstück an die Kreuzstraße Nr. 8. Dort war 1911 die Stadtbibliothek eröffnet worden. Als Gründer und Vorsitzender der Hildesheimer Bibliotheksgesellschaft weihte er siebzig Jahre später die „neue“ Stadtbibliothek in den Räumen der früheren Buchhandlung und der Druckerei Gerstenberg in der Judenstraße ein. Ein Jahrzehnt lang hatte er sich für eine angemessene Unterbringung von Bücherei und Archiv eingesetzt.
Das Unheil des Nationalsozialismus, dessen Faszinosum auch er als junger Mensch erlegen war, erlitt er als Soldat im Zweiten Weltkrieg, an dem er von 1943 bis 1945 teilnahm. Als Sechzehnjähriger hatte der Realschulabsolvent 1941 ein Redaktionsvolontariat angetreten. Daraus sollte sich eine journalistische Berufstätigkeit entwickeln, die er nach dem Externenabitur am Andreanum 1949 begann und bis 1972 ausübte. Sie führte ihn von Hildesheim nach Einbeck, Göttingen und Hannover, aber auch 1951 nach England und 1952 als Fulbright-Stipendiat in die USA. Seit 1964 war er stellvertretender Ressortleiter für Politik bei der Hannoverschen Presse.
Unmittelbar nach Kriegsende hielt er sich als Bauarbeiter über Wasser. Von 1945 bis 1949 spielte er in Hildesheim und Braunschweig Puppentheater. 1950 veröffentlichte er zusammen mit Erhard Reis das Standardwerk „Die Handpuppe. Herstellung und Spiel“. Da engagierte er sich politisch schon seit einem Jahr als Falke und Jungsozialist in der SPD und in der Gewerkschaft. Als Puppenspieler in der Laienspielschar der Gewerkschaftsjugend lernte er auch seine spätere Ehefrau Inge kennen.
Von 1959 bis 1968 und dann noch einmal von 1991 bis 1996 war Jochen Raffert Ratsherr in Hildesheim, 1991 stellte ihn die SPD als ihren Oberbürgermeisterkandidaten auf. Von 1965 bis 1972 gehörte er dem Bundestag in Bonn an, 1969 errang er für die SPD erstmals nach sechzehn Jahren wieder das Direktmandat. Am 15. März 1972 wurde er als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Forschung und Technologie Mitglied der Bundesregierung. Am 31. August 1972 schied er wegen eines – durchaus öffentlich bekannten – Beratervertrags mit dem Bauer-Verlag wieder aus dem Amt aus. In der Folge stellte ihn der Unterbezirk Hildesheim nicht wieder als Bundestagskandidat auf.
Jochen Rafferts politisches Engagement galt der Bildungs- und insbesondere der Kulturpolitik. Die Robert-Bosch-Gesamtschule und die Ganztagsschule Drispenstedt verdanken ihm Fördermittel aus dem Modellschulprogramm des Bundes als Starthilfe. Von 1966 bis 1972 war er Präsident der Filmförderungsgesellschaft, Berlin; für seinen erfolgreichen Beitrag, vor allem zur Förderung des „Neuen deutschen Films“ erhielt er 1970 deren goldene Ehrenmedaille. Ab 1973 war er Präsident der Niedersächsischen Bibliotheksgesellschaft und später deren Ehrenvorsitzender. Von 1966 bis 1988 war er Vorstandsmitglied beziehungsweise Vorsitzender im Landesverband niedersächsischer Volkshochschulen; in Hildesheim hatte er 1946 den Kulturring und die Volkshochschule mitgegründet. Zwanzig Jahre lang war er Vorsitzender der Bildungsvereinigung Arbeit und Leben. Seit 1968 wirkte Jochen Raffert bei der Auswahl von Friedrich-Ebert-Stipendiaten mit.
Von 1973 bis 1990 leitete er als Generalsekretär den Internationalen Arbeitskreis Sonnenberg, Braunschweig. Von 1980 bis 1996 war er stellvertretender Vorsitzender und seit 1997 Kurator der Gustav-Stresemann-Stiftung. Von 1972 bis 1981 war er auch Kurator der Volkswagen-Stiftung. Er galt als Experte für internationale Kulturpolitik, die er als Vorsitzender der Deutsch-Sowjetischen Gesellschaft speziell auch für die Verständigung mit Osteuropa nutzte.
Unvergessen ist sein Einsatz für den Erweiterungsbau des Roemer- und Pelizaeus-Museums, den er als stellvertretender Vorsitzender der Initiative „Bürger helfen ihrer Stadt – Für den Neubau des Museums“ buchstäblich erkämpfte. Als stellvertretender Vorsitzender des Museumsvereins trug er von 1982 bis 2000 zu dessen Wachstum und Stärkung maßgeblich bei. Die Mitglieder des Vereins dankten ihm mit der Ernennung zum Ehrenvorsitzenden. Auch der Erhalt des traditionsreichen Lax-Verlags war dem Autor zahlreicher Veröffentlichungen über „sein Hildesheim“ eine Herzensangelegenheit.
Geehrt wurde Jochen Raffert unter anderem 1982 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande, 1990 mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und 1996 mit dem goldenen Ehrenring der Stadt Hildesheim.
Joachim Raffert, den seine Freunde Jochen nannten, verstarb am frühen Sonntagmorgen des 18. Septembers 2005 im 81. Lebensjahr.