Lieber Hartwig, ich möchte mit einem Rückblick anfangen. Vor gut 25 Jahren begann die Kulturentwicklungsplanung des Landkreises. Seit 1999 liegt der Kulturentwicklungsplan vor. Wie bewertest Du ihn und seine Wirkung im Rückblick?

Grundsätzlich war Kulturentwicklungsplan zum damaligen Zeitpunkt eine gute erste Orientierung für dieses wichtige Feld kommunaler Daseinsvorsorge. Die Schwäche des Planes war und ist, dass der Plan nicht in konkrete Schritte kommunalen Handelns „übersetzt“ wurde, also kaum geplante Maßnahmen beauftragt und umgesetzt wurden. Es gab und gibt keinen konkreten Zeitrahmen wann was realisiert sein soll und die Wirkung z.B. überprüft wird oder werden kann. Der Plan wirkt auf mich heute vielmehr wie ein Gutachten, das – viele sehr gute - Handlungsempfehlungen an unterschiedliche Akteure gibt. Einige davon wurden umgesetzt – z.B. durch Gründung des Kulturbeirats und in der Abwicklung der Förderung, aber seit vielen Jahren ist es um die Inhalte des Kulturentwicklungsplans eher ruhig geblieben.

Der Plan wurde nie überarbeitet oder formell fortgeschrieben. Siehst du Überarbeitungs- und Aktualisierungsbedarf? Oder erfolgt diese Aktualisierung quasi durch praktisches Handeln und schließlich auch durch die Bewerbung für den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“?

Die Kulturhauptstadtbewerbung ist eine wunderbare Chance, nein, eher herausfordernder Auftrag, auch eine Überarbeitung bzw. die Erarbeitung neuer Vorschläge für zukünftige Strategien und Maßnahmen im Kulturbereich, für die Stadt Hildesheim, den Landkreis und seine Gemeinden in Angriff zu nehmen. Die Stadt Hildesheim entwickelt gerade für sich im Rahmen der Bewerbung eine neue und eigenständige Kulturstrategie. Das wäre auch ein Verfahren für die Gemeinden des Landkreises und den Landkreis selbst. Wenn diese Strategien erarbeitet sind, sollte eine Vernetzung ein qualitatives Miteinander im Interesse der Bürgerinnen und Bürger organisieren. Der Kooperationsvertrag in Sachen Kulturhauptstadtbewerbung kann hierfür eine gute Ausgangssituation bilden.

Du hast die Kulturhauptstadtinitiative mit auf den Weg gebracht. Wie schätzt Du den aktuellen Stand ein? Alles im zeitlichen Plan? Oder hast Du ggfs. größere Erwartungen an die Politik im Kreis und den Städten und Gemeinden?

Alle haben zugestimmt, das ist eine hervorragende Basis für die weitere Arbeit. Jetzt: Nicht nur fordern, dass das Projektbüro liefern soll, sondern sich weiter aktiv beteiligen. Jetzt ist der Zeitpunkt, die Fragen zu stellen, in welcher Zukunft wir in unserer Region leben wollen. Das erfordert Engagement, jenseits vom Tagesgeschäft und von Gemeindegrenzen. Die Süddeutschen Zeitung hat in ihrem Feuilleton (!) vor einigen Tagen einen Artikel „Gegen die Wand“ – was heißt das für uns veröffentlicht? Wie können wir Anschluss halten an die globalen Prozesse und uns dennoch nachhaltig und mit unseren Interessen aufstellen? Was können wir dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft die nötigen verändernden Schritte geht? Diskussionen anregen, Impulse liefern, Diskurs erzeugen. Nicht nur bezogen auf das einzureichende BidBook (Bewerbungskonzept), sondern eher als großes regionales Gespräch. Der Unterbezirk der SPD sollte dafür auch einen Diskussionsrahmen schaffen.

Nicht zaudern, sondern machen: Diskutieren, gestalten, visionieren.

Die Arbeiten an der Bewerbung für den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“ laufen zwar, gleichzeitig diskutieren wir aber auch bereits seit einiger Zeit über die zukünftige Aufstellung von Kultur- und kommunalen Bildungseinrichtungen, z.B. VHS und Musikschule Hildesheim. Ein Widerspruch?

Im Gegenteil. Die Frage nach der zukünftigen Aufstellung des Kulturbereichs ist doch die Kernfrage der Kulturhauptstadt-Bewerbung. Nur, dass hier nicht die Einrichtungen und ihre konkrete Situation im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage nach der Kultur als solcher, die m.E. auch bei der Frage nach den existierenden Einrichtungen als erstes gestellt werden müsste. Die Grundfrage lautet nicht, wie kriegen wir die VHS und die Musikschule für die Zukunft gesichert, sondern WOZU brauchen wir eine VHS und eine Musikschule. Die Frage nach dem WIE ist bedeutsam, drängt sich auf, ist aber nachgelagert. Wir müssen erst wissen WAS wir wollen und dann darüber nachdenken, wie wir es umsetzen. Dabei sind die gewachsene Kulturlandschaft, aber auch die neuen Impulse gleichgewichtig zu berücksichtigen.

Und dazu dient auch die Kulturhauptstadt-Bewerbung. Kultur wieder als das wahrzunehmen, was sie ist, nämlich gesellschaftlicher Kitt, Lebensqualität, Lebenssinn, usw. Und aber auch die Fragen zu stellen, die bisher unbeantwortet geblieben sind: Was definieren wir als Kultur, wie wird sie für uns auch zukünftig identitätsstiftend, wie können wir die Effekte der Aus- und Abgrenzung, die Kultur eben auch erzeugt, mindern, wie gehen wir mit der zunehmenden kulturellen Vielfalt unserer Gesellschaft um, wie werden neue Medien und ihre Inhalte und Möglichkeiten integriert, schaffen wir es, die sozialen und demokratischen Defizite, die die Digitalisierung und die neuen Medien mitbringen, mit Hilfe von Kultur und kulturellen Interventionen mildern, usw. usw. usw.

Und danach erst kommt die Frage: Welche Einrichtungen brauchen wir dazu? Wie muss eine Musikschule, eine Volkshochschule gestaltet sein, dass sie hier weiter Beiträge leisten können? Wie werden die Einrichtungen belastbar und flexibel in Bezug auf zukünftige Entwicklungen? Wie gestalte ich sie offen für die stetigen Veränderungsprozesse, die vonnöten sein werden?

Und von welchen überkommenen „in die Jahre gekommenen“ kulturellen Angeboten sollte man, muss man sich auch verabschieden? Welchen Platz hat der künstlerische Kanon, wie viel künstlerische Exzellenz brauchen wir? Und was bedeutet eigentlich künstlerische Exzellenz?

Die Kulturhauptstadt-Bewerbung will einen Beitrag leisten, nachhaltige Lösungsansätze für strukturelle Fragen wie diejenigen der Musikschule, den Museen, der Volkshochschule und andere Kultureinrichtungen zu finden und wird dies auch in der Bewerbungsschrift formulieren müssen. Letztlich werden die Glaubwürdigkeit und Kompetenz der Bewerbung in diesem Punkt und der politische Rückhalt hierfür für den Erfolg ausschlaggebend sein, nicht der noch so exzellente Status Quo einzelner kultureller Einrichtungen.

In der Diskussion fällt oftmals der Hinweis, dass man klären müsse, was Grundversorgung im Kulturbereich sei und was über diese Grundversorgung hinausgehe. Im Juli 1998 hat es im Rahmen der Erarbeitung eines Regionalen Wirtschaftskonzeptes einen kulturpolitischen Workshop gegeben. Du wirst im Protokoll wiedergegeben mit der Aussage, „...sei zu überlegen, was die öffentliche Grundversorgung im Kulturbereich umfassen müsse.“ Hat sich an der Grundfrage in den 20 Jahren etwas verändert, führen wir im Kern die alte Debatte und wenn ja, woran liegt das?

Lange Zeit ist Kultur hauptsächlich von der Angebotsseite gedacht worden. Die Kunstfreiheit im Grundgesetz, die ursprünglich vor politischer Vereinnahmung schützen sollte, hat dazu geführt, dass das kulturelle Produkt quasi unantastbar, per se als wert- und sinnhaltig und somit unhinterfragbar gilt, und die Frage des Erreichens der Menschen eine Frage von Bildung und Erziehung ist. Aber wenn Kultur keine Menschen oder nur exklusive gesellschaftliche Gruppen Kultur erreicht, dann kann sie nicht wirksam werden.

Kultur muss wieder mehr von der Bedarfs-Seite gedacht werden. Was sind die Belange und Bedürfnisse der Menschen und der Gesellschaft in Bezug auf Kultur und kulturelle Leistungen? Dass Kultur meist dem Marktmechanismus entzogen ist, heißt nicht, dass die Frage nach dem Sinn und Zweck und einer Bedarfsorientierung nicht zu stellen wäre – im Gegenteil! Gemeint ist nicht Massentauglichkeit und Popularität sondern eher: welche Anforderungen und Bedürfnisse an und nach kulturelle(r) Bildung bestehen? Wie können jungen Menschen ästhetische Erfahrungen ermöglicht werden, die ihre Attraktivität aus einer heutigen Lebenswirklichkeit ziehen und nicht nur aus einem als „Kultur“ tradierten Kanon legitimiert sind?

Die Kulturhauptstadt-Bewerbung kann dazu beitragen, hier neue Wege aufzuzeigen und ein Experimentierfeld zu sein.

Bietet der Prozess der Kulturhauptstadtbewerbung die Chance, die grundsätzliche Frage der kulturellen Grundversorgung zu klären? Oder überfrachtet man damit diesen Prozess.

Ja, siehe oben.

Du bist in der Kultur- und Bildungsszene und ihren Einrichtungen vielfältig engagiert. Was erwartest Du von der ehren- und hauptamtlichen Kommunalpolitik, sowohl auf Kreisebene als auch von den Städten- und Gemeinden?

Mehr Inhalt – nicht nur Sicherung von Institutionen in der Hoffnung, dass dort der Inhalt schon stimmt. Die Inhalte, nicht nur die Institutionen und Strukturen öffentlich geförderter Kultur müssen permanent Gegenstand eines Aushandlungsprozesses sein. Öffentlich geförderte Kultur muss sich immer neu den Fragen stellen, ob und wie sie ihren Auftrag erfüllt und ausfüllt. Und dafür muss Politik diesen Auftrag immer neu, auch kontinuierlich und mit Nachdruck diskutieren und formulieren.

Kulturpolitik ist die Politik für gelingendes Leben des Einzelnen und de Gesellschaft. Dass wir in Hildesheim einen erfolgreichen (Modell)beitrag (auch für Europa) leisten können, davon bin ich überzeugt. Wir müssen es nur tun. Die Kulturhauptstadtbewerbung ist eine große Chance, wenn wir sie gemeinsam ergreifen.

Ich erwarte eine gemeinsame Anstrengung für eine lebenswerte und liebenswerte gemeinsame Wirklichkeit.