Nach der Niederlage bei der Bundestagswahl im September 2017 und dem desaströsen Wahlergebnis von 20,5 Prozent braucht die SPD einen „Neustart“. Wir brauchen organisatorische Veränderungen, die die SPD attraktiver machen. Wir brauchen aber auch eine programmatische Selbstvergewisserung und Selbstverortung als Sozialdemokratie. Wie sieht unsere Vorstellung einer solidarischen Gesellschaft aus? Dieser Prozess kann in einer Grundsatzprogrammdebatte gebündelt werden. Ein Beitrag von Sven Wieduwilt.

Hamburger Bundesparteitag im Dezember 2007: Ein neues Grundsatzprogramm wird verabschiedet und ein langjähriger Programmprozess damit zu Ende geführt. Langjährig nicht wegen der Intensität und Vielfalt der Debatte, sondern wegen diverser Unterbrechungen und Pausen aufgrund von Wahlkämpfen und Regierungshandeln. Man tut den damaligen Akteuren an der Spitze unserer Partei wahrscheinlich kein Unrecht, wenn man feststellt, dass der Grundsatzprogrammprozess nicht den höchsten Stellenwert hatte.

Das Hamburger Grundsatzprogramm war 2007 auf der Höhe der Zeit. Es bündelte die Debatten, die es seit 1998 in der Sozialdemokratie gab und formulierte eine kohärente Erzählung sozialdemokratischer Politik.

Zehn Jahre später ist die Entwicklung vorangeschritten, Themen und Fragestellungen haben sich verändert und die Sozialdemokratie steht vor neuen Herausforderungen, auf die das Hamburger Grundsatzprogramm keine Antworten gibt und natürlich auch keine geben konnte.

Wo sind die Defizite?

1) Der Prozess der Digitalisierung, ihre enormen Chancen und nicht zu vernachlässigenden Risiken, findet im Hamburger Programm nicht statt. Dieser Prozess, der unsere Zukunft in den allermeisten gesellschaftlichen Bereichen bestimmen wird, muss Eingang in ein Grundsatzprogramm finden.

2) Die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise der Jahre 2008/2009 und deren Folgen müssen eingeordnet werden. Anforderungen und Herausforderungen in der europäischen und internationalen Politik der letzten Jahre müssen aufgenommen werden.

3) Internationale Migrationsbewegungen und die Herausforderungen der Integration sind in ihren Dimensionen erst ab 2015 deutlich geworden. Auch dieser Aspekt bedarf einer Aufnahme in ein Grundsatzprogramm.

4) Gesellschaftliche Spaltungen haben zugenommen. Die Gesellschaft ist ungleicher geworden, der Graben zwischen Arm und Reich nimmt zu.

5) Die Gefahren von Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit haben in Deutschland und Europa eine neue Dimension erreicht.

6) Die Herausforderungen von Umwelt- und Klimapolitik bedürfen eines sehr viel höheren Stellenwertes.

Hinzu kommt schließlich:

7) Das Hamburger Grundsatzprogramm ist ein Programm, das zu Regierungszeiten beraten und verfasst wurde. Von einer Partei weit weg von 20,5 %.

Der Bedarf an einem neuen Grundsatzprogramm ist dabei nicht neu. Neue Fragestellungen und damit einhergehend offene Punkte waren schon lange deutlich. Die Frage stellte sich so bereits 2014/2015 im Rahmen der sogenannten Perspektivdebatte der SPD. Vor zwei Jahren hatte der SPD-Unterbezirk Hildesheim in diesem Zusammenhang auch einen entsprechenden Antrag an den damaligen Parteitag des SPD-Bezirks Hannover gerichtet.

Es gibt Viele, die schütteln beim Stichwort "Grundsatzprogramm" den Kopf. Wer liest so etwas noch? Und wahrscheinlich haben diejenigen Recht, die der Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogrammes eine überwiegend interne Bedeutung für eine Partei beimessen.

Aber darin liegt die Chance und Bedeutung in der jetzigen Situation. Wir brauchen organisatorische Veränderungen. Veränderungen, die die SPD attraktiver und offener machen. Wir brauchen darüber hinaus aber auch eine inhaltliche Selbstvergewisserung und Selbstverortung als Sozialdemokratie. Wo stehen wir? Wie sieht unsere Vorstellung einer solidarischen Gesellschaft aus? Welche Konflikte – in der Gesellschaft, aber auch zwischen inhaltlichen Positionen in der eigenen Partei - gilt es dabei auszutragen und auszuhalten? Welche Fehler haben wir in der Vergangenheit gemacht? Welche Entwicklungen haben wir falsch bewertet? Wo hatten wir Erfolge und an welchen programmatischen Positionen gilt es festzuhalten? Denn auch das muss klar sein, auch wenn im Teaser von Neustart gesprochen wird: Die Sozialdemokratie kann auf eine lange, stolze und oftmals erfolgreiche Geschichte zurückblicken. Ein unkritisches Überbordwerfen von organisatorischen und programmatischen Beständen wäre daher wenig zielführend.

Dieser erforderliche Diskussionsprozess kann in einer Grundsatzprogrammdebatte intensiv geführt und gebündelt werden. Wichtig ist dabei, diese Debatte nicht im stillen Kämmerlein zu führen. In Gegenteil: Sich bewusst Zeit nehmen und bewusst und aktiv den Dialog mit Bündnispartnerinnen und -partnern suchen, gehört mit zum Programmprozess einer offenen Partei, einer offenen Sozialdemokratie auf der Suche nach alten und neuen Mehrheiten und einer überzeugenden sozialdemokratischen Erzählung einer solidarischen Gesellschaft!

Sven Wieduwilt ist Vorsitzender des SPD-Gemeindeverbandes Holle, stellvertretender Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Hildesheim und Mitglied im Vorstand des SPD-Bezirks Hannover.