Am 14. November 2015 nahm Thorsten Schäfer-Gümbel, stellv. Parteivorsitzender der SPD, an der Veranstaltung des SPD-Unterbezirks Hildesheim „Starke Ideen für Deutschland 2025“ teil. Anlässlich dieser Veranstaltung stand er für ein Interview zur Verfügung. Die Fragen stellte Sven Wieduwilt, stellv. Vorsitzender des SPD-Unterbezirks.

Seit langer Zeit verharrt die SPD im 25%-Turm. Was sind die Ursachen?

Die SPD muss beharrlich und mit einer Politik der langen Linien Vertrauen bei den Wählerinnen und Wählern zurück gewinnen. Wir haben in der Großen Koalition immense Verbesserungen für die Menschen erreicht: Mindestlohn, Mietpreisbremse, Rente nach 45 Beitragsjahren, Frauenquote und erste Schritte zur doppelten Staatsbürgerschaft. Alles Dinge, die wir vor der Wahl versprochen und eins zu eins umgesetzt haben. Das schafft Vertrauen, reicht aber noch nicht. Dazu muss eine klare und noch stärkere Abgrenzung zum politischen Gegner kommen. Die SPD muss bei den Zukunftsfragen Arbeit, Gesundheit & Pflege, Bildung, Rente klar erkennbar sein. Dann hab ich auch keine Sorge für 2017.

Ich bin auch kein Freund des täglichen Prozente-Barometers. Politik mit Haltung macht man mit klarem Wertekompass und nicht nach Umfragen. Für mich lautet das Rezept: Verlässlichkeit, Haltung und weniger Zahlenspiele.

Die SPD hat im Juni mit dem Papier „Starke Ideen für Deutschland 2025“ eine Perspektivdebatte gestartet. Was ist die Zielsetzung? Und gibt das Papier die richtigen Antworten, wie die SPD wieder mehrheitsfähig werden kann?

Für die Union soll alles bleiben wie es ist – wir führen Zukunftsdebatten! Mit der Perspektivdebatte senden wir ein Zeichen des programmatischen Aufbruchs: Wir denken über die Legislaturperiode hinaus und diskutieren, wie wir uns das Land in zehn Jahren vorstellen. Weil es eben nicht ausreicht – wie die Kanzlerin – das Hier und Jetzt zu verwalten. Wenn wir auch morgen noch wirtschaftlich stark sein wollen, müssen wir dafür heute die Weichen stellen. Dafür entwickeln wir im Dialog mit der Partei und den Bürgerinnen und Bürgern die Antworten. Dieser Spur geht das Papier nach. Damit es zur Diskussion anregt, hat es bewusst Ecken und Kanten.

Die Debatte läuft seit Juni. Wie ist die Resonanz?

An der Online-Debatte haben sich schon viele beteiligt. Doch vor allem der Kongress im Oktober in Mainz war ein großer Erfolg. Über 900 Menschen waren hier in Workshops dabei und haben ihre Vorschläge eingebracht. Für den Bundesparteitag im Dezember legt der Parteivorstand einen Leitantrag vor, der unsere weiteren Schritte zum Wahlprogramm darlegt. Die Debatte bleibt also spannend.

Zu Beginn der Perspektivdebatte im Juni stand die Themen Flucht und Asyl noch nicht in dem Umfang auf der politischen Agenda. In den letzten zwei, drei Monaten hat sich die Situation dramatisch verändert und zugespitzt. Was bedeutet diese Entwicklung für die Perspektivdebatte?

Wir stehen vor einem Jahrzehnt der Integration. Das schlägt sich natürlich auch bei der Perspektivdebatte nieder. Wie sieht erfolgreiche Integration der Flüchtlinge auf Dauer aus? Wie reagieren wir bei der Bildung, bei den Zugängen zu Arbeit oder beim sozialen Wohnungsbau? Wie bekämpfen wir die rechtsradikalen Tendenzen? Diese Fragen sind nicht neu, erhalten nun aber eine weitere Facette.

Das Papier zu der Debatte trägt den Titel „Starke Ideen für Deutschland 2025“. Wo sind starke Ideen wie die Bürgerversicherung geblieben?

Das Papier ist kein SPD-Grundsatzprogramm und ersetzt unsere Beschlusslagen nicht. Die Bürgerversicherung war, ist und bleibt die richtige Antwort auf die zum Teil bereits vorhandene Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland und die solidarische Finanzierung der immer größer werdenden Herausforderungen im Bereich Pflege und Gesundheit.

Die Frage der Finanzierung des Staates wird nicht weiter thematisiert. Lässt sich eine gesellschaftspolitische Perspektivdebatte führen, ohne die Verteilungsfrage aufzuwerfen?

Nein! Und der Leitantrag zum Bundesparteitag wird das auch nicht auslassen. Wir wollen den alten Leitspruch „Wohlstand für alle“ mit neuem Leben, neuen Antworten füllen. Daher brauchen wir Steuergerechtigkeit, insbesondere einen harten Kampf gegen Steuerhinterzieher und Steuerdumping. Die Sozialdemokratie setzt sich für steigende Löhne ein, bessere Tarifbindung. Und natürlich müssen wir auch die Verteilungsfrage stellen. Denn Ungleichheit verhindert wirtschaftliches Wachstum!

Die Wahlbeteiligung geht immer weiter zurück. Hinzu kommt, dass Untersuchungen zur Wahlbeteiligung immer deutlicher eine soziale Spaltung belegen: Sozial Schwächere gehen nicht mehr zur Wahl. Eine dramatische Entwicklung für die Demokratie, für die Gesellschaft und für die Sozialdemokratische Partei. Wie lässt sich hier das Vertrauen zurückgewinnen? Welche Antworten gibt die Debatte?

Die SPD hat eine überparteiliche Initiative zur Steigerung der Wahlbeteiligung angeregt. Dazu gehören bessere Informationen über Wahlen, ein leichterer Zugang durch vereinfachte Briefwahl zum Beispiel. Klar ist: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen nicht tatenlos bleiben und uns gemeinsam mit anderen demokratischen Parteien auf Bundes- und Länderebene dafür einsetzen, dass sich möglichst viele Bürgerinnen und Bürger aktiv am politischen Leben insgesamt beteiligen. Eine starke Wahlbeteiligung stärkt die Legitimation von Politik und Institutionen, kann Vertrauen erneuern helfen und sorgt auch dafür, dass rechte Parteien weniger Chancen auf den Einzug in die Parlamente haben.

Ebenfalls zur Frage der weiteren Debatte: Dein Landesverband hat die Erarbeitung eines neues Grundsatzprogrammes gefordert. Es liegt auch ein entsprechender Antrag zum Bundesparteitag vor. Warum muss das „Hamburger Programm“ überarbeitet werden?

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität werden immer die Leitlinien eines jeden Sozialdemokraten und einer jeden Sozialdemokratin sein. Aber unser Grundsatzprogramm ist von 2007. Das Jahr, in dem das allererste iPhone vorgestellt wurde. Schon das zeigt: Einige Herausforderungen unserer Zeit sind im Hamburger Programm nicht abgebildet. Smartphones bestimmen heute unsere Lebens- und Arbeitswelten.

Mit der Lehmann-Pleite brach 2008 die Finanzkrise so richtig aus. Mit immensen Folgen für das Gefüge von Wirtschaft und Finanzmärkten, aber auch Fragen für unsere Demokratie. Die Demokratie wird nicht nur durch Wahlenthaltung bedroht, sondern zunehmend durch die soziale Spaltung.

Und wir brauchen neue Ansätze für unsere Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik. Das haben die Anschläge von Paris erst jüngst wieder gezeigt. Unsere Grundwerte werden heute auch von Terroristen herausgefordert, weniger von staatlichen Akteuren. Wir müssen unsere internationale Gestaltungsfähigkeit für Sicherheit und Frieden ausbauen und Entspannungspolitik über neue Wege schaffen. Und das unter Bedingungen multipler und komplexer werdender Konfliktherde auf der Welt. Auf all das brauchen wir neue Antworten, das muss sich auch in einem neuen Grundsatzprogramm wiederfinden.

Hat die SPD die Zeit und vor allem die Kraft für eine ernsthafte und intensive Grundsatzprogrammdebatte?

Ja, davon bin ich überzeugt. Nur so bauen wir Vertrauen auf und schaffen lange Linien.

Das Thema Flüchtlinge ist immer und überall das beherrschende Thema. Leider wird aber mit sehr viel Emotionen und weniger mit Informationen diskutiert. Warum tritt die SPD nicht damit hervor, die Menschen stärker sachlich über Zusammenhänge zu informieren? Die Menschen haben viele Fragen und kaum Antworten.

Ja, Menschen haben Fragen. Und wir müssen Antworten liefern. Doch ich finde, dass die SPD hier vorbildlich agiert. Wir lassen uns von den populistischen und oft menschenunwürdigen Vorschlägen der CSU nicht treiben. Stattdessen sind wir als Teil in der Großen Koalition der pragmatische und besonnene Partner. Wir haben darüber hinaus viele Beschlüsse gefasst, die die Zusammenhänge darstellen – denn langfristige Integration und Flüchtlingshilfe ist mehr als nur ein Dach über dem Kopf.

Wird diese Koalition aus CDU/CSU und SPD bis zum Ende der Legislaturperiode halten?
Wenn man auf die letzten Tage zurückblickt sieht es so aus, als wollten Teile der CDU und die CSU einen Bruch: erst die Debatte um die Flüchtlingsfrage mit immer neuen Forderungen und nun auch noch die erneute Debatte um den Mindestlohn.

Die SPD ist der Stabilitätsanker der Großen Koalition. Das erweist sich in dieser schwierigen Zeit mehr denn je. Angesichts der Herausforderungen sollte niemand die Handlungsfähigkeit der Regierung untergraben. Ich habe das bewusst mehrfach öffentlich und scharf in Richtung des Koalitionspartners gesagt. Innerhalb der Union herrscht zum Teil wirklich Chaos. Wir lassen aber nicht zu, dass die Union ihr eigenes Führungsproblem zu einem Problem der Bundesregierung macht.

Wie schätzt Du die Gefahr des Rechtspopulismus und eines möglichen Rechtsruckes bei Wahlen ein? Die letzten Umfrageergebnisse für die AfD sind dabei erschreckend.

Die Gefahr ist auf jeden Fall da. Wir dürfen niemanden zurück lassen. Und niemand darf das Gefühl bekommen, „die Politik“ würde ihn vergessen. Aus dem „Wir schaffen das“ muss ein „So schaffen wir das gemeinsam“ werden. Wenn Menschen das Gefühl haben, von der Politik vergessen zu werden, sind sie anfällig für die Propaganda der rechten Rattenfänger. Die Aufgabe von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auf allen politischen Ebenen ist daher, dass wir die Menschen mitnehmen müssen, ihre Ängste und Sorgen ernst nehmen, doch vor allem mit Zusammenhalt und Solidarität Antworten finden.